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Leseproben

„Nicht nur die Hoffnung ist grün“

Am Mittag war also die Pressekonferenz.

Franco ging mit einem sehr unguten Gefühl an die Sache heran; denn wenn man ehrlich sein sollte – sie hatten nichts! Nur, dass sich die beiden Fälle fast aufs Haar glichen: beide Männer waren zwischen 31 und 35 Jahren alt, sportliche Figur. An der Kleidung war nichts Besonderes, Markenware zwar, aber trotzdem nicht übermäßig teuer.

Zwei Merkmale, über die man noch nichts herausgefunden hatte, erregten die Gemüter: zum einen das winzige Pfeilgeschoss, kaum einen Zentimeter lang, offensichtlich mit einem absolut tödlichen Gift präpariert.

Zum anderen die rasierte Stelle am Hinterkopf, gut drei Zentimeter im Quadrat, mit dem Dollarzeichen, so grün wie die bewussten Scheine.

Dann hatten die Männer keine Papiere bei sich, was die Ermittlungen nicht gerade erleichterte. Gleich am nächsten Tag des ersten Mordes hatte die Pressestelle einen kurzen Bericht und das Foto herausgegeben, leider hatte sich noch niemand gemeldet, der den Toten kannte.

Polizeipräsident Reinsberg begrüßte zunächst die Journalisten und fing an, die bisherigen Fakten darzulegen. Weit war er nicht gekommen, als Bubach ihn respektlos unterbrach:

„Hören Sie, Reinsberg, das wissen wir doch schon. Haben Sie nicht mal was Neues auf Lager?“

Horst Reinsberg legte sein liebenswürdigstes Lächeln auf – wofür Franco ihn schon wieder bewunderte – und ging direkt auf den Mann ein:

„Hören Sie, Bubach, wir nehmen es zur Kenntnis, dass Sie ungeduldig sind. Aber Sie müssen schon gestatten, dass wir Ihre werten Kollegen zunächst noch informieren. Dass Sie bereits alles wissen, ist tatsächlich bekannt!“

Bubach fiel die Kinnlade auf die Brust.

Der Polizeipräsident kannte ihn mit Namen, damit hatte er nicht gerechnet.

„Nun mach den Mund zu, es zieht“, bemerkte sein Nachbar, der Chefreporter des Emsland – Kurier, Karbeck.

Reinsberg fuhr indes fort: „Wir müssen tatsächlich zugeben, dass unsere bisherigen Ergebnisse recht dünn sind. Das größte Problem sind natürlich die fehlenden Papiere, daher werden wir unsere Fotoaktion auf die überregionalen Zeitungen und das Fernsehen ausweiten. Zusätzlich zu den Fotos geben wir eine Aufstellung der Kleidungsstücke heraus, das könnte eine zusätzliche Chance sein!“

Bubach hatte sich wieder gefangen und meldete sich erneut zu Wort: „Wie wäre es, wenn Sie sich mal um die umliegenden Druckereien kümmern würden? Schließlich wurde so merkwürdige Stempelfarbe benutzt…“

„Sie werden es nicht fassen, Herr Bubach, aber unsere Bemühungen gehen bereits in diese Richtung!“, erwiderte Reinsberg.

Karbeck vom Emsland – Kurier hob die Hand:

„Ist es richtig, dass ein indianisches Pfeilgift verwendet wurde?“

„Dazu kann Ihnen wohl eher unsere Frau Dr. Ferchmann etwas erzählen – bitte, Frau Kollegin!“

Reinsberg gab das Wort an Christine weiter und setzte sich.

Alles schaute auf die junge Frau, die völlig abwesend neben Franco saß und erst aufhorchte, als ihr Name fiel. Sie erhob sich mit einem gezwungenen Lächeln und nahm ihre Unterlagen zur Hand:

„Nach ersten Untersuchungen haben wir zwar festgestellt, dass es sich um ein Nervengift handeln muss, aber ein indianisches fällt im Moment aus – die Restkristalle, die wir im Blut der Toten gefunden haben, passen nicht in das Bild der uns bekannten Pfeilgifte. Wir haben dem Leichnam aus der vergangenen eine größere Blutprobe entnommen und an das Toxikologische Institut in Hamburg geschickt. Nun müssen wir auf die Ergebnisse warten, hoffentlich können wir Ihnen bald Näheres sagen, ich danke Ihnen.“

Müde sank Christine auf ihren Stuhl.



„Mehr als nur Bühne“

Von den drei, vier anwesenden Männern erntete Yvonne anerkennende Pfiffe. Dann standen sie endlich auf dem engen Gang hinter der Bühne, von dem aus man durch zahlreiche Türen in die einzelnen Garderoben gelangte. Eine dieser Türen ging eben auf, extrem langsam, und ein kleines Mädchen kam heraus. Es drehte Brahms und Yvonne den Rücken zu und huschte den Flur hinunter. Brahms bemerkte Yvonnes erstaunten Gesichtsausdruck und erklärte:

„Das war Sabrina, die Adoptivtochter von Udo Sarig. Wahrscheinlich hat sie mal wieder versucht, Papa zu überreden, dass sie heute Abend vom Bühnenaufgang aus zusehen darf. Doch das erlaubt Udo ihr nicht mehr, seitdem sie einer Dame vom Ballett auf den Fuß getreten ist. Wie eine Furie ist die damals auf das Mädchen los und hätte fast die Vorstellung geschmissen. Herr Homburg, mein Stellvertreter, konnte eben noch das Schlimmste verhindern. So – da wären wir!“

Brahms klopfte kurz an die Tür, an der mit drei goldenen Sternen unterlegt die Initialen ‚U.S.’ prangten. „Herein!“, erklang eine recht genervte Stimme.

Brahms ließ Yvonne den Vortritt und beobachtete gespannt, was nun geschah: Udo saß in einem breiten, uralten Ledersessel und hatte ein Textbuch in der Hand. Er ließ den Papierstapel sinken und starrte Yvonne an wie einen Geist, dann sah er zu Brahms hinüber:

„Johannes – ich habe doch ganz deutlich gesagt: keine Fanbesuche hier drin! Bring sie wieder raus!“ Udo macht eine abweisende Handbewegung, als wollte er ein Insekt vom Kuchenteller scheuchen.

Noch bevor der Direktor etwas sagen konnte, machte Yvonne noch einen Schritt auf Udo zu und reichte ihm die Hand hin.

„Guten Tag!“, strahlte sie, „mein Name ist Yvonne Kramer, ich komme von StarGuard!“

Udo wollte eben das Manuskript wieder aufnehmen, doch seine Hand blieb mitten in der Bewegung hängen. Erneutes Starren, immer im Wechsel zwischen der jungen Frau und seinem Chef. Dann hatte Udo die Sprache wieder gefunden und die Nachricht hinter Yvonnes Begrüßung verstanden. Seine Stimme senkte sich zu einem angespannten Flüstern:

„Wie bitte!? Sie wollen hier den großen Beschützer spielen? Das ist ja wohl ein Witz!“, stellte er fest und widmete sich endgültig wieder dem Manuskript.

Brahms trat hinter Yvonne und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Kommen Sie“, sagte er, gerade so laut, dass Udo es eben noch hören konnte, „bevor die Vorstellung beginnt geht er immer noch eine Runde spazieren. Und für Künstler gibt es hier nur einen Ein- und Ausgang!“

Yvonne und der Theaterdirektor waren schon fast wieder an der Tür, als das Textbuch heftig auf den Fußboden geworfen wurde.

„Halt!“, donnerte Udo.

Brahms grinste und wartete.

„Dann – dann...“, Udo suchte nach den richtigen Worten, „dann wirst du mich eben begleiten, Johannes!“

„Ich?“

Der Direktor wirbelte herum und starrte den Schauspieler wie eine Erscheinung an. „Das meinst du doch nicht im Ernst! Hier- „er wies auf Yvonne, „diese hübsche, junge Frau wurde extra dafür engagiert. Ich gehe jetzt mit Frau Kramer in die Kantine, nur, damit du weißt, wo du sie findest!“ Dann drehte er sich schnell wieder um, schob Yvonne aus dem Raum und drückte die Tür fest ins Schloss.

„So, jetzt darf man gespannt sein“, brummte er zufrieden.



„Tränen auf Brokat“

Am Vormittag wurde es sehr lebendig in Rotherbaum. Von der Grindelallee aus zog ein merkwürdiger Korso durch den Moorweidenweg, angeführt von einem Mann, der tollkühne Turnereien auf dem Rücken eines Schimmels vollführte. Um dieses Paar herum sprangen zwei halbwüchsige Mädchen in bunten Kostümen, die im Wechsel Rad schlugen oder einige Schritte auf den Händen liefen. Dann folgte ein recht stämmiger Mann, der längliche Stäbe in die Luft warf, so dass sie sich überschlugen, und danach wieder auffing. Ein junges Mädchen fuhr auf einem Rad, das nur aus einem Reifen bestand, eine Frau führte einige Hunde spazieren. Das Fell war den Tieren so geschoren worden, dass es den Anschein hatte, als hätten sie einen Hut auf und Stiefel an. Am Schluss folgten zwei Wagen, je von zwei Pferden gezogen. Auf beiden stand die gleiche Aufschrift:

„Circus und Varieté Carsten Jensen“

Während der letzte Wagen überdacht war, fehlte die Plane bei dem anderen. Dort hatte eine kleine Kapelle platzgenommen und spielte lustige Marschmusik, die von einigen schrägen Tönen und wilden Trillern lebte.

Wie auf Kommando waren alle Christiansen – mit Ausnahme des Seniors natürlich – und auch die Angestellten vor das Haus gelaufen, um das bunte Treiben genauer zu beobachten. Richard Christiansen junior stellte mit einem einzigen fachkundigen Blick fest:

„Die Pferde sind ja erstaunlich gut gepflegt!“

Constanze, die direkt neben ihrem Vater stand, presste wütend die Lippen aufeinander. ‚Bestimmt meint er, dass die Tiere gestohlen sind’, dachte sie böse, ‚schließlich ist fahrendes Volk nicht in der Lage, Pferde ordentlich zu behandeln! ’

Laut durfte sie das natürlich nicht sagen, Richard würde seiner Tochter augenblicklich verbieten, auch nur eine Vorstellung zu besuchen. Noch bevor Constanze ihre grimmigen Gedanken fortsetzen konnte, hörte der Mann mit den Holzstäben auf, diese in die Luft zu werfen und rief den Zuschauern laut zu:

„Verehrte Herrschaften, mein Name ist Carsten Jensen – besuchen Sie unser kleines Varieté auf dem Spielbudenplatz in St. Pauli. Erleben Sie, wie eine Jungfrau in der Luft schwebt und aus einem harmlosen Zylinder ein Meer von Blumen wächst. Halten Sie den Atem an, wenn Siegfried seine Tochter auf den Schultern trägt und dabei auf dem galoppierenden Pferd steht. Kommen Sie, Herrschaften! Morgen, am Nachmittag um drei und am Abend um sechs können Sie uns besuchen!“

Richard meinte körperlich zu spüren, wie die Augen seiner Töchter an ihm hingen, und winkte den Mann vom Varieté zu sich heran. Jensen kam schnell angelaufen und machte eine tiefe Verbeugung: „Bitte, gnädiger Herr – Sie wünschen?“

„Sagen Sie, Meister – was würde es kosten, wenn ich mit meiner ganzen Familie käme?“ Richard machte eine weitreichende Handbewegung.

Da aber Elsbeth, Tristan, Bettina und Tamara etwas abseits standen, fragte Jensen vorsichtig nach: „Wie viele Personen wären das wohl?“

„Nun, eben diese acht, die Sie hier sehen!“

„Dann, gnädiger Herr, bekommen Sie einen Gruppenbonus. Ganz recht, den gibt es bei uns – Sie zahlen sechs Taler!“

Jensen wandte sich zu den Wagen um und rief: „Gunnar! Bring bitte das Buch mit den Billets!“ und drehte sich wieder zu Richard: „Dann kann ich Ihnen gleich eine passende Loge reservieren, wenn es recht ist!?“

„Sicher“, stimmte Richard zu, „das nenne ich wirklich geschäftstüchtig. Warten Sie einen Moment, ich will nur meine Geldbörse holen.“

Doch bevor er den Weg zum Haus antreten konnte, musste Richard die Dankesumarmungen seiner Töchter über sich ergehen lassen.

Gunnar, der eben herantrat, war ein kräftiger junger Mann mit nordischem Aussehen. Als er und Constanze sich in die Augen sahen, schien die Luft trotz des kalten Novemberwindes zu glühen.



„Kidnapped – Für die Liebe um die halbe Welt“

Es war mal wieder das typische Hamburg-Wetter!

Der Hafen lag im tiefsten Nebel, von Blohm & Voss klangen zwar die Geräusche von Stahlhämmern und Schweißgeräten herüber, doch konnte man die großen Werftanlagen nur schemenhaft erahnen.

Ein paar wenige Nachsaisongäste verirrten sich an diesem Vormittag zum Barkassenanleger der Firma Friedrichsen und so startete gegen zehn Uhr dann wenigstens die Charlotte II, zu Dreivierteln ausgelastet, mit Gottfried Kreft am Steuerstand.

Der achtundfünfzigjährige Barkassenführer war das typische Abbild eines Kapitäns, so wie ihn sich jede Landratte im allgemeinen vorstellte: ein lustiger Sauerkrautbart kringelte sich um das Kinn, im Mundwinkel hing eine Pfeife und die schwarze Mütze – Elbsegler genannt – saß schräg auf dem Kopf. Hin und wieder packte Gottfried die Mütze an dem kleinen Schirm, kratzte sich mit zwei Fingern in den Haaren und rückte die Kopfbedeckung wieder zurecht.

Mit klarer, deutlicher Stimme brachte er den Zuhörern auf dem kleinen Schiff die Geheimnisse des Hamburger Hafens näher. Und da gab es natürlich für jeden etwas: die Techniker staunten über die Werftanlagen von Blohm & Voss, die Industriellen sahen mit glänzenden Augen an den Fassaden der Speicherstadt hinauf und den Geschichtsinteressierten lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn Gottfried und seine Kollegen am Grasbrook vom Schicksal des Seeräubers Klaus Störtebeker erzählten. Und Gottfried sprach sogar Englisch! Hatte er sich extra im Abendkurs auf der Volkshochschule angeeignet.

Jetzt war er gerade mal wieder mit seiner Barkasse unter der Bronzefigur des enthaupteten Seefahrers angekommen:

„…und hier ist der Platz, an dem der berüchtigte Klaus Störtebeker hingerichtet wurde. Man hatte aber eine besondere Art Gnade walten lassen. Es sollten diejenigen seiner Mannschaft am Leben bleiben, an denen er – ohne Kopf! – vorbei läuft. Und ob ihr das nun glaubt oder nicht…“

Was seine Zuhörer ihm glauben sollten oder nicht, erfuhren sie im Moment nicht. Gottfried wurde rüde unterbrochen, als eine resolute Dame aufstand und rief: „Was fällt Ihnen ein – solche Lügengeschichten zu erzählen? Hier sind auch ein paar Kinder an Bord, die glauben das vielleicht noch!“

Die Kinder waren ein paar vierzehn- bis fünfzehnjährige, die anfangs etwas gelangweilt ausgesehen hatten, mittlerweile war das aber eher ins Gegenteil umgeschlagen. Die Dame fing sich eine herbe Kritik von den anderen Gästen ein und eines der halbwüchsigen Mädchen rief sogar:

„Mensch, Tantchen – reg dich ab und lass den alten Knaben weiter erzählen!“

Gottfried grinste in seinen Sauerkrautbart und nahm den alten Knaben locker hin, das war für ihn absolut keine Beleidigung. Das Mädchen lachte den Seemann an, deutete mit dem Daumen nach oben und meinte: „Alles klar, Chef – erzähl’ mal weiter!“

„Is man good, mien Deern“, nickte Gottfried und fragte dann: „Was meinst du – an wie viel von seinen Kameraden ist der olle Störtebeker wohl vorbeigelaufen ohne Kopf?“

Offensichtlich stellte das Mädchen sich die Szene bildlich vor; denn sie verzog etwas das Gesicht. Dann meinte sie tapfer: „Drei!?“, obwohl sie eigentlich bezweifelte, dass der Mann überhaupt an einem vorbei gekommen war.

Während die Frau, die gegen diese Art von Geschichtsunterricht protestiert hatte, mit hochrotem Kopf und vor der Brust verschränkten Armen auf ihrer Bank saß und auf das leicht brackige Hafenwasser starrte, warteten alle anderen gespannt darauf, dass ihr Kapitän das Rätsel lösen würde.

„Tjä-!“, Gottfried kratzte sich wieder am Kopf-, „es waren tatsächlich elf! Doch leider haben die Hohen Herren der Hanse ihr Wort nicht gehalten und alle Kameraden von Störtebeker hingerichtet. Aber der Pirat hatte seine Rache bereits vorbereitet – schaut Mal dort zur St.-Kathrinen-Kirche hinauf…!“

Alle Gäste auf der kleinen Barkasse folgten dem Fingerzeig des Schiffers.

Etwa auf dem letzten Drittel des Turmes war ein prunkvoller Kranz aus purem Gold angebracht worden.

„Das ist das geraubte Gold von Störtebeker!“, verkündete Gottfried. „Jawoll, so war das mit dem ollen Störtebeker! Komm her, mien Deern – du darfst mir helfen, die Charlotte II nach Hause zu bringen!“



"Sonderfahrt für die Bürgermeister"

05. Oktober 1906, an einem Freitag

Wo noch kein Bahnhof existierte, musste auch kein Großer Bahnhof arrangiert werden. Voll wurde es trotzdem an diesem Freitagmorgen am Kuhmühlenteich.

Hier sollte die Ringbahn später über eine Stahlbrücke mit 65 Metern Spannweite fahren. Der Streckenabschnitt begann mit der geplanten Haltestelle Uhlandstraße und sollte etwa in Höhe der St. Gertrud-Kirche in das nächste Viadukt münden.

Diese Viadukte hatten bereits vor dem ersten Spatenstich für große Aufregung gesorgt.

Als die ersten Zeichnungen im Hamburgischen Correspondenten erschienen, waren die imposanten Stahlkonstruktionen Stadtgespräch sowohl in den Hafenkneipen als auch in den Kontoren der Kaufleute oder den Kaffeekränzchen der feinen Gesellschaft.

Auf der einen Seite waren die modernen, aufgeschlossenen Menschen, die sich besonders auf die schnelleren Verbindungen freuten.

Dagegen wetterten diejenigen, die beispielsweise die sonntägliche Ruhe durch ratternde Züge gefährdet sahen. Außerdem führte man die Zerstörung der Natur ins Feld.

Noch vor dem offiziellen Baubeginn am 07. Oktober 1906 waren die entsprechenden Petitionen abgewiesen worden.

Es war also sieben Uhr in der Früh, als eine Feuerspritze, ein Trupp Holzfäller sowie ein Sprengmeister am Kuhmühlenteich eintrafen. Die mit Äxten ausgerüsteten Männer, hinter denen sich jeder Jahrmarktringer verstecken konnte, und der schwer beladene Karren, dessen Abdeckung mit dem Schriftzug „Kalle Krumm macht Bumm“ versehen war, erregten in den Straßen rund um die markierte Baustelle großes Interesse.

Besonders die Jungs schlichen hinter dem Wagen her und versuchten unter die Abdeckung zu schauen. Doch dies wusste Kalle, der eigentlich Karl-Johann Krumm hieß, zu verhindern: mit einer schnellen Armbewegung ließ er die Peitsche knallen! Fast glaubte man, die Klatsche berührte die Nasenspitze des neugierigen Jungvolkes.

Verschreckt machten die ersten beiden einen Satz zur Seite, wobei sie den Halt verloren und sich gegenseitig umrissen. So hatten die anderen nun einen neuen Grund, sich zu amüsieren und der Wagen von Kalle Krumm zog weiter unbehelligt seines Weges.

Etwa zweihundert Meter vor der beginnenden Baustelle wurden die Jungs dann endgültig gestoppt, hier hatte man eine Polizeisperre eingerichtet. Aber man gestattete ihnen wenigstens, die Vorbereitungen aus diesem Abstand heraus zu beobachten.

Im Hamburger Echo war angekündigt worden, dass wegen des zu errichtenden Dammes am Kuhmühlenteich gut zwanzig Bäume gefällt und zwei Häuser gesprengt werden mussten. Natürlich hatte es auch hierzu Protest gegeben, schließlich mussten vier Familien in eine neue Behausung ziehen. Und nur die Tatsache, dass der Hamburger Senat diese Umzüge voll umfänglich bezahlte, hatte die Wogen geglättet.

Gespannt verfolgten die etwa 12- bis 14jährigen Burschen, wie die Holzfäller die Wege neben den Bäumen absicherten, einer stand mit einer Liste da und überprüfte, dass auch die richtigen Bäume markiert wurden.

Kalle Krumm inspizierte währenddessen mit zwei Gehilfen die Grundstücke und die zwei Häuser selbst von innen, er hatte schon manche Überraschung erlebt!

Die erfreulichste Begegnung war die mit einer Katzenmama, die in dem zu sprengenden Gebäude ihre Kinder zur Welt gebracht hatte. Schnell hatten hilfreiche Hände dafür gesorgt, dass die Tierchen einen sicheren Platz bekamen.

Ein anderes Mal fand Kalle einige Trunkenbolde vor und musste die Polizei bemühen. Und vor ein paar Wochen erst - auch im Zuge der Bautätigkeiten zur Ringbahn - stieß man auf den letzten Bewohner, der partout nicht weichen wollte. Auch hier war die Hilfe der Polizei nötig und kostete einen Tag.

Die zwei Häuser heute jedoch waren sauber.

Kalle und seine Helfer platzierten bei jedem Gebäude an vier vorher genau berechneten Stellen eine ebenfalls punktgenau bestimmte Menge Dynamit. Als das geschehen war, blies einer der Gehilfen in ein schrilles Horn.

Die Holzfäller verließen unverzüglich die Baustelle und gingen ein ganzes Stück den Kuhmühlenteich hinunter. Auf der anderen Seite forderten die Polizisten die Jugendlichen und alle sonstigen Neugierigen unmissverständlich auf, sich um einhundertfünfzig Meter zurückzuziehen, auch diese Stelle war bereits markiert. Als die Straße endlich sicher war, ertönten aus beiden Richtungen die gellenden Pfiffe von Polizeipfeifen, das Signalhorn antwortete.

Man hatte das Gefühl, als wäre der gesamte Straßenzug in Watte gepackt worden: es war mucksmäuschenstill, nicht einmal ein Vogel zwitscherte.

Noch einmal ertönte das Signal am Sprengplatz und nur wenige Sekunden später detonierte der erste Sprengsatz!

Den Jungs, die wiederum ganz vorne standen, kam es so vor, als würde das Haus einen kurzen Moment vom Boden abheben, dann wieder auf seinem Platz stehen, um aber gleich darauf die Wände entlang zu zersplittern und auf derselben Stelle zusammenzubrechen.

Es erhob sich eine große Staubwolke, sicher doppelt so hoch als es das Haus vorher gewesen war.

Die Zuschauer hatten kaum Zeit, sich von diesem Schauspiel zu erholen, als das Signalhorn erneut zu hören war, gefolgt von der zweiten Explosion. Und wieder: abheben, absetzen, zersplittern, zusammenbrechen, Staubwolke.

Und jetzt kam die Feuerspritze zum Einsatz: damit sich der Staub schnell legte und die Holzfäller weiterarbeiten konnten, wurde Wasser aus dem Teich auf die Ruinen gepumpt. Nach einer viertel Stunde war aus Staub Matsch geworden.

Dann hörte man wieder die Äxte im Takt schlagen.

Um die Trümmer würden sich andere kümmern.

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